Harte Fronten: Drogen, Rassismusvorwürfe und ein Legitimationsdefizit der Polizei – Criminologia

Die Forschungsstelle für strategische Polizeiforschung der Polizeiakademie Hamburg beauftragte Anfang des Jahres eine „Akteur-zentrierte Multi-Stakeholder-Konfliktanalyse zur Bearbeitung des örtlichen Drogenproblems an der Balduintreppe.“ Da die Polizei (hier: die Forschungsstelle FOSPOL) den Bericht derzeit aus technischen Gründen noch nicht veröffentlichen kann, tue ich dies hier im Volltext.

Um die Balduintreppe / Hafenstraße ist seit Jahren ein offener und aufgrund des quantitativen Aufkommens öffentlich wahrnehmbarer Drogenmarkt etabliert. Die Händler sind zumeist junge Männer westafrikanischer Herkunft. Obwohl die Polizei seit 2016 in einer Task Force Ressourcen zur Eindämmung des Drogenproblems bündelt, kann der BtM-Handel auch mit hohem Ressourceneinsatz bestenfalls in Schach gehalten, aber nicht eingedämmt werden.

Die hohe Polizeipräsenz und insbesondere Schwerpunkteinsätze und Kontrollen spalten das Quartier. Viele Anwohner kritisieren die Task Force scharf und fühlen sich durch die Polizei belagert. Ein Teil der Anwohner rahmt den Konflikt als „kriminell“ (BtM-Handel); ein anderer als „rassistisch“; die Priorisierung der Strafverfolgung schwarzer Geflüchteter sei diskriminierend und Ausdruck einer menschenverachtenden Politik.

Die Gegnerschaft zur Polizei in Teilen der lokalen Bevölkerung ist historisch gewachsen: Die Hafenstraße ist seit Jahrzehnten Austragungsort innerstädtischer Konflikte. Die Beziehungen zwischen Polizei und der Quartiersbevölkerung sind angespannt und die Fronten teilweise sehr verhärtet: Interaktionen zwischen Polizisten und Bürgern eskalieren schnell. Im Quartier St. Pauli Süd herrscht bei vielen Anwohnern ein tiefes Misstrauen gegenüber der Polizei vor. Dies geht soweit, dass Opfer von Straftaten sich nicht an die Polizei wenden. Der Leidensdruck aller am Konflikt beteiligten Akteure ist hoch.

An zu klärenden (Konflikt-)Themen mangelt es nicht: Wissens- und Überzeugungsspektren (Mindsets), die Entfremdung und Polarisation zwischen Polizei und Bürger:innen, unterschiedliche Einschätzungen von Unsicherheitsräumen und Ordnungsvorstellungen, das über die Dauer nur schwer zu begründende Raumordnungskonzept „Gefährlicher Ort“, der Zuschnitt des Auftrages der polizeilichen Task Force, „blinde Flecken“ in der polizeilichen Wahrnehmung wie beispielsweise ein hohes Maß an nicht statistisch erfassten Personenkontrollen, die Marktförmigkeit des BtM-Handels und Eskalationsdynamiken am „Hotspot“ Balduintreppe.

Die Aufzählung, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, zeigt: Der Konflikt ist mehrdimensional, vielschichtig und komplex. Hier überlappen und konzentrieren sich vielfältige sozialpolitische Herausforderungen. Akteur:innen auf der lokalen Mikroebene können viele der Push-Faktoren im Konflikt nicht beeinflussen: Migration, eine hohe Nachfrage nach BtM und der Hafenrand als etablierter Markt, oder die hohe Belastung des Viertels durch Besuchermassen sind Gegebenheiten, mit denen alle Beteiligten versuchen, einen Umgang zu finden.

Alle Konfliktparteien tragen ein (ideologisches und geographisches) Hinterland in den Konflikt hinein. Die Balduintreppe ist folglich weniger Epizentrum, sondern mehr Schnittstelle und Austragungsort diverser politischer Konflikte. Der Sozialraum St. Pauli-Süd ist für polarisierte Akteur:innen (Hardliner), die es in allen Konfliktparteien bzw. Interessengruppierungen gibt, ein „Resonanzraum“ zur Durchsetzung von Deutungsangeboten und -hoheiten.

Die Involvierung von Bystandern und Passanten in polizeiliche Maßnahmen sowie Solidarisierungen mit Adressaten selbiger durch Anwohnende gehören zum Alltag der Bewohner und der Polizisten.

Die Konvergenz konfliktiver polizeilicher und gesellschaftlicher Themen ist ein Einfallstor für den Vorwurf der Diskriminierung bestimmter Nutzergruppen des Sozialraumes durch die Polizei.

Der polizeiliche Auftrag „Bekämpfung öffentlich wahrnehmbarer Drogenkriminalität“ folgt einem managerialen Leitbild des Umgangs mit sozialen Problemen, indem diese als unvermeidlich hingenommen und „nur“ adäquat nach fallbezogenen Interessen gemanagt werden müssen.
Key Findings und Handlungsempfehlungen

Die Polizei wird mit der Bearbeitung der negativen Folgen mehrerer ungelöster gesellschaftlicher und sozialpolitischer Konflikte beauftragt, deren Ursprünge erstens räumlich und zeitlich weiter dimensioniert sind und die zweitens mit polizeilichen Mitteln nicht bearbeitbar sind.

Zwei „klassische“ Rollenverständnisse von Polizisten scheitern an der Situation: Erstens das Auftreten der Polizei als Ordnungsmacht und zweitens das Selbstverständnis von Polizist:innen, Konfliktschlichter und Helfer für den Bürger zu sein:

  • Die Polizei wird als zentraler Akteur im Konflikt wahrgenommen, vielfach sogar als Konflikttreiber.
  • Die bestehende (Rechts-) Ordnung und deren Aufrechterhaltung wird durch Push– Faktoren wie irreguläre Migration und Angebot/Nachfrage nach BtM herausgefordert.
  • Die Kooperation (Compliance) und Akzeptanz der örtlichen Bevölkerung für polizeiliche Maßnahmen fehlt.
  • Es bedarf der permanenten polizeilichen „Mehranstrengung“: Neben den gängigen polizeilichen Instrumente StGB und Gefahrenabwehrrecht wurde das Raumkonzept „Gefährlicher Ort“ verstetigt und die Task Force (und damit die Präsenz von Zusatzkräften der Bereitschaftspolizei in einem Wohnviertel) institutionalisiert. Juristische Mittel wie die Eindämmungsverordnung zur Coronapandemie (EVO) oder die Überprüfung ausländerrechtliche Verstöße werden zur Bearbeitung der BtM-Situation herangezogen und damit zweckentfremdet.

Zur nachhaltigen Verbesserung der Situation im Quartier St. Pauli-Süd empfiehlt es sich, das Konfliktgefüge sowohl polizeiintern wie auch mit den Bürger:innen im Quartier zu bearbeiten.

In einem von mir entwickelten Pilotprojekt bearbeiten Polizei und Bürger:innen ab Anfang nächsten Jahres gemeinsam die identifizierten Konfliktthemen. In mehreren Workshops werden sich Multiplikatoren und Stakeholder aus allen Interessengruppen aus dem Viertel und aus der Polizei zusammenfinden. Ein strukturierter und moderierter Dialog kann natürlich nur ein Anfang sein, einen festgefahrenen Konflikt konstruktiv anzugehen und langfristig positive Veränderungen für das Quartier zu erreichen – aber ohne Dialog wäre auch kein Anfang gemacht.

Quelle: https://criminologia.de/2021/12/harte-fronten-drogen-rassismusvorwuerfe-und-ein-legitimationsdefizit-der-polizei/