Warum wir nicht über Drogen reden wollen, sondern über Rassismus. – Initiative zum Gedenken an Achidi John

Offener Brief an Nadja Maurer: Warum wir nicht über Drogen reden wollen, sondern über Rassismus.

Sehr geehrte Frau Maurer,

nachdem Sie Ihre Studie für die Polizei über den Stadtraum „Balduintreppe“ auf criminologia.de (post vom 13.12.2021) veröffentlicht haben, wollen sie nun mit Ihrem „Pilotprojekt St. Pauli-Süd: Partnerschaft zwischen Polizei und Quartier“ workshops für Anwohner*innen und Polizeibeamt*innen durchführen. In diesen workshops soll „die Rolle der Polizei und deren Auftrag vermittelt“, es sollen „Vorurteile und Misstrauen abgebaut“ und „Themen des Quartiers gemeinsam bearbeitet“ werden.

Die Themen „Struktureller Rassismus in der Polizei“, „Asylpolitik“ und „Kriminalisierung von BtM“ schließen Sie in Ihrer Studie und in den geplanten workshops aus. Diejenigen Anwohner*innen, die das Auftreten der Polizei in St. Pauli Süd grundsätzlich kritisieren, beschreiben Sie in Ihrer Studie als Gruppe, deren Haltung „mit demokratischer Rechtsstaatlichkeit, die … Strafverfolgung qua Legalitätsprinzip … regelt, nicht widerspruchslos vereinbar“ sei. Hinsichtlich der Problematik des illegalisierten BtM-Straßenhandels übernehmen Sie unkritisch die Auffassung der Hamburger Innenpolitik bzw. der Polizei 1 zu 1: BtM-Händler seien fast ausschließlich junge Männer westafrikanischer Herkunft. Und die Polizei sei schließlich qua Gesetzgebung zur Verfolgung verpflichtet.

30 Jahre Stigmatisierung sind genug!

Mit dieser Herangehensweise ignorieren Sie drei Jahrzehnte Erfahrungen mit der Stigmatisierung Schwarzer Menschen durch die Polizei im Zusammenhang mit dem Straßenhandel mit Drogen, und Sie ignorieren die schmerzlichen Erfahrungen der von dieser Stigmatisierung Betroffenen.
Spätestens seit Beginn der 1990er Jahre läuft in Hamburg immer wieder das gleiche Schema ab: Der Straßenhandel wird dämonisiert und bestimmten, an äußerlichen Merkmalen erkennbaren Personengruppen, zugeschrieben. Sog. „szenetypisches“ Verhalten wird eruiert, notfalls konstruiert. Spezialeinheiten der Polizei werden eingesetzt, um „offene Drogenszenen“ in Schach zu halten. In welchem Ausmaß dieses Vorgehen zur rassistischen Verfolgung, Demütigung und Misshandlung Schwarzer Menschen, insbesondere junger Männer mit nicht gesichertem Aufenthaltsstatus aus afrikanischen Ländern, geführt hat, ist seit dem Hamburger Polizeiskandal bekannt. Konsequenzen, die an der Fixierung von Polizeibeamt*innen auf Schwarze Menschen als potentielle Händler illegalisierter BtM etwas ändern könnten, wurden nicht gezogen. Im Gegenteil: Hamburg hat nicht vor der Brechmittelfolter halt gemacht, die im Jahr 2001 Achidi John das Leben kostete.

Seit 2016 patroulliert nun die Task Force Drogen in St. Georg, dem Schanzenviertel und St. Pauli Süd. Anwohner*innen in St. Pauli Süd nehmen wahr, dass sich Schwarze Menschen kaum im Bereich der Balduintreppe, ohne von der Polizei kontrolliert zu werden. Schwarze Anwohner*innen machen die Erfahrung, dass sie von der Polizei verdächtigt und verfolgt werden. Der institutionelle Rassismus, auf dem diese Verhältnisse beruhen ist manifest. Ihn zu ignorieren, und „daran vorbei“ die „Probleme des Viertels“ aufarbeiten zu wollen, kann nur dazu beitragen, ihn zu legitimieren und weiter zu verstetigen.

Verständnis für den Status Quo?

Die Strafverfolgungspflicht, die sie ansprechen, besagt, dass Staatsanwaltschaft und Polizei bei einem konkreten Verdacht im Einzelfall Ermittlungen aufnehmen müssen. Die Strafverfolgung von Delikten nach dem Betäubungsmitelgesetz ist bei den überbordenden Polizeieinsätzen in St. Pauli jedoch von untergeordneter Bedeutung. Insbesondere die Task Force Drogen geht hier mit den Mitteln des Polizeirechts vor, die nicht voraussetzen, dass der konkrete Verdacht einer Straftat vorliegt. Dementsprechend werden die polizeirechtlichen Befugnisse, z.B. Identitätskontrollen, inflationär und wahllos gegen Schwarze Menschen genutzt. Dieses Vorgehen ergibt sich keineswegs aus gesetzlichen Bestimmungen, sondern beruht auf politischen Entscheidungen.
Das Konzept des „Gefährlichen Ortes“, das dieses Vorgehen ermöglicht bzw. erleichtert ist rechtsstaatswidrig und führt in St. Pauli de facto dazu, Schwarze Menschen als polizeirechtliche „Störer“ zu definieren und zu verfolgen. Diejenigen Initiativen und Anwohner*innen, denen sie ein „gebrochenes Verhältnis zum Rechtsstaat“ attestieren wollen, fordern deshalb schon lange die Aufhebung der polizeirechtlichen Definition des Gebiets um die Balduintreppe als „Gefährlicher Ort“ und die Abschaffung der Task Force Drogen.

Ginge es darum, in St. Pauli Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz aufzuspüren, müsste die Polizei z.B. auch mittels häufiger Razzien in den Diskotheken, Bars und Clubs nach den Leuten fahnden, die sich verbotener Weise an der Balduintreppe oder anderen Orts mit illegalisierten Drogen eingedeckt haben. Die Käufer*innen, die die Nachfrage für illegalisierte BtM schaffen, bleiben jedoch weitgehend unbehelligt. Statt dessen stürzen sich die Beamt*innen auf die als BTM-Händler stigmatisierten Schwarzen Menschen.

Diese Vorgehensweise beruht nicht auf den Entscheidungen einzelner Beamt*innen, sondern entspricht ihrem innenpolitischen Auftrag. Dieser besteht darin, die „öffentlich wahrnehmbare Drogenkriminalität“ an der sich „nach polizeilichen Erkenntnissen überwiegend Personen afrikanischer Herkunft“ beteiligen, die u.a. wegen des „Antreffortes“ identifizierbar seien, mit polizeilichen Maßnahmen zu bekämpfen (so z.B. Antwort des Senats auf die Parlamentarische Anfrage 21/4570). Selbst wenn Polizist*innen diesen Auftrag kritisieren sollten, könnte keine*r von ihnen aus eigenem Ermessen etwas daran ändern. Was also sollen Anwohner*innen mit Polizist*innen besprechen? Dass die Polizei hier nur „ihren Job“ macht?

Ein Stadtviertel kann nicht die Probleme der Welt lösen. Aber die Bewohner*innen eines Viertels können entscheiden, wie sie reagieren, wenn die Probleme der Welt bei ihnen anklopfen.

Die Ursachen dafür, dass einige junge Männer aus afrikanischen Ländern tatsächlich dealen, sind Armut und eine diskriminierende, strukturell rassistische deutsche Rechtslage. Ob afrikanische Märkte mit in der EU subventioniertem Hühnerfleisch oder mit hier von karitativen Organisationen gesammelten Altkleidern überschwemmt werden, oder ob das Preisdiktat westlicher Großkonzerne für Kakao zu Kinderarbeit auf afrikanischen Plantagen führt: Der afrikanische Kontinent wird noch immer zu unseren Gunsten auf vielfältige Weise wirtschaftlich ausgebeutet.

Die Lage, in der sich diejenigen afrikanischen Menschen, die in die BRD migrieren, befinden, ist Ihnen bekannt: Residenzpflicht und Aufenthaltsbeschränkungen, oft auf kleine Orte im Osten Deutschlands, Beschäftigungsverbote bzw. hohe Hürden für eine legale Beschäftigung führen dazu, dass sich viele „unerlaubt“ in die Städte begeben, um Anschluss an Communities von Landsleuten zu bekommen und wenn möglich doch irgendeinen Job zu finden. Diese Bedingungen tragen entscheidend zu einem stetigen Nachschub an Kandidat*innen für illegalisierte Arbeitsmärkte, u.a. den Straßenhandel mit BtM, bei. Wenn Anwohner*innen diese Situation berücksichtigen und eine Abkehr von der polizeilichen Verfolgung Schwarzer Menschen im Bereich der Balduintreppe fordern, wenn es ihnen gelingt, mit denjenigen Männern, die tatsächlich BtM verkaufen, Absprachen zur Sozialverträglichkeit des Straßenhandels zu treffen, ist dies eine begrüßenswerte Suche nach friedlichen Lösungen für Probleme, die von den Behörden unter Einsatz von psychischer und physischer Gewalt angegangen werden.

Wie Sie in Ihrer Studie richtig schreiben, geht es um soziale Probleme, die die Polizei nicht lösen kann. Diese Probleme wären nur mit sozialpolitischen Mitteln bearbeitbar, sowie mit der Abschaffung der Residenzpflicht und von Beschäftigungsverboten bzw. mit einem ungehinderten Zugang zu Ausbildung und Beschäftigung für die jungen Männer, die sich u.a. an der Balduintreppe treffen. Hier könnte Hamburg mehr tun, wenn es wollte.

Ihre Workshops für Anwohner*innen und Polizist*innen führen hier nicht nur nicht weiter. Indem Sie offensichtlich die grundsätzliche Kritik von Teilen der Anwohner*innenschaft als rechtsstaatlich problematisch denunzieren, stellen Sie vermeintlich „rechtschaffene“ vermeintlich „staatsfeindlichen“ Anwohner*innen gegenüber. Die Gefahr, dass dies das Viertel spaltet, anstatt zu tragbaren Verhältnissen für alle beizutragen, liegt auf der Hand.

Aus diesen Gründen fordern wir Sie auf, von Ihrem Projekt Abstand zu nehmen.

Initiative zum Gedenken an Achidi John

initiative_achidijohn at systemli org